Ambulante Impfstation

Bregenz, Platz der Wiener Symphoniker, Sonntagabend 14. Mai 2017, kurz nach 19 Uhr. Auf dem Weg zu einem Konzert des Symphonieorchesters Vorarlberg stolpert das Bregenzer Bildungsbürgertum über eine ambulante Impfstation, welche die erstmalige Möglichkeit bietet, eine neu entwickelte Schutzimpfung gegen Vorurteile kostenlos auszuprobieren.
„Schon geimpft?“, wird das ankommende Publikum gefragt. Zwei Worte reichen als „Eröffnungszug“, um den Schritt der Konzertbesucher zu verlangsamen, sich auf ein kurzes Gespräch einzulassen. Die Androhung einer „Schutzimpfung gegen Vorurteile“ entlockt den meisten ein breites Lachen. Und schon sind sie mitten drin im Thema rund um Vorurteile in unserer Gesellschaft. Es sei eine Frage der Zeit, dass der Erfindung eines Impfstoffs gegen Vorurteile der Nobelpreis verliehen werde, sagt ein Mann in festlicher Kleidung.
Die Testimpfung (Bild: Daniela Egger)  wird mit einer überdimensionierten Spritze von einem „Ärzte-Team“ in weissen Kitteln fachgerecht verabreicht, bevor sich das geimpfte Publikum ins Festspielhaus setzt, um die eigenen Vorurteile während der Einwirkungszeit bewusst zu machen, im besten Falle gar aufzuweichen, musikalisch interpretiert von Xavier de Maistre, dem modernen Paganini der Harfe.

Schuh-Inventar im Treppenhaus

Kurz vor Abfahrt in den Urlaub soll mit Unterstützung meiner Kinder noch ein Schuh-Inventar erstellt werden, um die Übersicht nicht zu verlieren. Das hauseigene Treppenhaus dient als temporäres Schuhgestell. Jeder Schuh wird identifiziert, Leihgebern und Schuhgeschichten zugeordnet, mit einem roten Punkt markiert und nummeriert, bevor sie auf den einzelnen Stufen ausgestellt werden. Wobei es sich unsere Mädchen nicht nehmen lassen, besonders exklusive Exemplare auf einer kleinen Gangprobe auszuführen.

Schuh-Grauen

Abends lande ich in einer illustren Runde, die sich um einen Küchentisch versammelt hat. Und werde mit Schuhen überschüttet: ein weisser Ballerina-Einzelschuh, deren zweite Hälfte tief unten im Meer liegt; rote Stöckelschuhe, die an den Füssen brennen; oder schwarze, die nicht nur aussehen wie ein Gefängnis, sondern auch eines sind, wie auf einem blauen Zettel steht. Mit reicher Beute fahre ich gegen Mitternacht über den Zoll, 11 Paar Leihschuhe liegen in Tüten und Koffern verpackt auf dem Rücksitz. Als mich plötzlich ein seltsames Gefühl beschleicht: Was mache ich hier eigentlich? Wohin mit all diesen Schuhen fremder Leute? Wo zwischenlagern, wie die Übersicht behalten? Was habe ich mir da nur aufgeladen. Nicht zu sprechen vom Aufwand, all dieses Schuhwerk wieder zu den richtigen Leihgeberschaften zurückzubringen. Unerwartete Zweifel und kurzzeitiges Schuh-Grauen machen sich breit.

„Oh, der Herr Doktor“

„Geschichten anprobieren wie Kleider“, heisst es im Roman „Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch. Heute im wörtlichen Sinne. Um mich in meine Rolle als Untersuchungsleiter der ambulanten „Schutzimpfung gegen Vorurteile“ einzufinden, unterrichte ich heute für einmal ganz in Weiss, ein rotes Stethoskop um den Hals gehängt. „Oh, der Herr Doktor“, begrüsst mich eine Studentin mit einem breiten Schmunzeln. Alles, was an diesem Vormittag gesagt und getan wird, bekommt eine besondere Färbung: die Farbe „Weiss“. Als ich auf der Rückfahrt in einem Autobahn-Restaurant Halt mache, machen mir schiefe Blicke klar, dass ich mit meinem „Aufzug“ wohl die üblichen Hygiene-Vorschriften des Pflegebereichs unterwandere…

Wie ein Musketier

Kornmarktplatz in Bregenz. In der Frühlingssonne warte ich auf „Kundschaft“. Eine Frau Mitte 40 nimmt an meinem Tisch Platz, stellt braune Lederstiefel mitten auf den Tisch und erzählt aus ihrem Leben. Für eine Party habe sie „Schuhe gesucht, die richtig reinknallen“. Gefunden habe sie dieses Prachtsexemplar, in denen sie sich vorgekommen sei wie ein Musketier auf einem starken Pferd, sagt die ehemalige Reiterin. Seit Ewigkeiten stehen die Stiefel seither im Schrank und erinnern bei jedem Öffnen der Schranktüre an die bahnbrechende Party.

Schuhe zum Znacht

Neue Zwischenstation in meiner Berufsbiografie: selbsternannter Schuh- und Schuhgeschichten-Sammler. Wenn ich abends nach Hause komme, stelle ich die neuste Errungenschaft auf den Küchentisch. Beim Abendessen erzählen uns unsere beiden Mädchen, wem die Schuhe gehören könnten. Bevor ich ihrer Fantasie die ein paar Stunden zuvor freigelegte Geschichte hinter dem Schuhpaar entgegenstelle. Ein Schuhrätsel, das bereits nach wenigen Tagen zu einem beliebten, wohl befristeten Ritual geworden ist.

„Sind das Ihre Schuhe?“

Früher Nachmittag im Museumscafé. Mitten auf dem Tisch stehen gelbe Converse-Schuhe, welche Blicke der Café-Gäste auf sich ziehen. „Diese Menschen haben sich entschieden, die Schuhe auf den Tisch zu stellen“, höre ich einen Mann halblaut sagen. „Sind das Ihre Schuhe?“, fragt er wenig später die Frau in unmittelbarster Nähe. Die Antwort „Ja, halb.“ ruft nach einer Geschichte, hier ist sie: „Unsere 15-jährige Tochter wünschte sich Converse-Schuhe, als Prestige- und Statussymbol. Unser elterlicher Protest gegen eine nur über Waren definierte Scheinwelt formulierte ein klares Nein. Nichtsdestotrotz brachte sie eines Tages übergrosse gelbe Converse nach Hause, eine Freundin hatte sich von ihnen getrennt. Die Farbe war dann aber doch zu auffällig, weswegen die heiß begehrten Schuhe nach ein paar Wochen im familiären Faschingslager landeten und seither von allen Familienmitgliedern regelmäßig ausgeführt werden, ob als Schuhe für ein Huhn, als Schuhe einer Punkerin oder als Schuhe eines Clowns – multifunktionell und cross culture.

Die Schuhe des Antagonisten

„Wer andere ernsthaft verstehen will, muss dessen Position einnehmen – nicht nur gedanklich, sondern tatsächlich“, schreibt der Schriftsteller Rolf Dobelli in seiner Kolumne über „Die Kunst des guten Lebens“. Und erzählt die Anekdote zwei hervorragender Abteilungen einer Firma, die miteinander auf Kriegsfuss standen. Was den CEO dazu veranlasste, den Chef des Kundendienstes zum Chef der Programmierer zu machen – und umgekehrt. Und zwar nicht nur kurzfristig, sondern permanent! Schon eine Woche, nachdem sie in die Schuhe ihres Antagonisten geschlüpft sind, hatten sie die Wurzeln des Konflikts verstanden. „Sich in die Position seines Gegenübers hineinzudenken, klappt selten“, schreibt Dobelli. Der dazu nötige Gedankensprung sei zu gross, das Interesse zu klein. „Um jemanden wirklich zu verstehen, muss man in die Schuhe des anderen schlüpfen, die Situation des Gegenübers am eigenen Leib erleben.“ (Bild: El Bocho)
https://www.nzz.ch/feuilleton/die-kunst-des-guten-lebens-wir-egozentriker-ld.1289345

Ein teures Missverständnis

Mittags um 13 Uhr, Friseur-Termin. Ich tausche die Überlänge meines Haarschopfs gegen einen adretten Frisurenkopf für meine Mädchen und ein schwarzes Paar Leihschuhe Marke Paul Green, ein gutes „Geschäft“. Schuhe, die allen stehen würden ausser ihr, sagt meine italienische Coiffeuse. Ein klassischer Fehlkauf, ein Missverständnis. Zudem fehle ihr das passende Gewand dazu. Falls es dann doch noch auftauchen sollte, könnte es zu spät sein, sprich die Schuhe ausser Mode geraten, befürchtet die Friseurmeisterin. Die Frage nach besonders lieb gewonnenen Schuhen führt immer wieder auf direktem Weg in Lebensgeschichten: Manch ein/e Schuhträger/in erzählt Geschichten, die er/sie wohl gar nicht preisgeben wollte.

Wäsche-Schmuggel aus dem Spital

Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden steht unsere Nachbarin, eine nicht namentlich genannt sein wollende Pflegefachfrau, vor unserer Wohnungstür, einen Stapel weisser Hosen und Oberteile in den Händen. Der Schmuggel aus einem Spital im benachbarten Ausland hat also geklappt, dieses Mal gar in den richtigen Grössen – jetzt müssen sie nur noch über die Grenze… Die ambulante Impfstation gegen Vorurteile nimmt langsam Formen an: Impf-Liege und Stethoskop liegen bereit, die Spritze ist im Bau, erste Komplizen sind angemeldet. Fortsetzung folgt.